Brief vom Amtsgericht Erding an Michael Siegel

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Titel

Brief vom Amtsgericht Erding an Michael Siegel

Beschreibung

Geschichtliche Zusammenhänge lassen sich manchmal selbst anhand unscheinbarer Briefumschläge erstaunlich gut darstellen: Das Beispiel symbolisiert den Übergang von der Weimarer Republik zur Diktatur und macht auf ein jüdisches Schicksal aufmerksam. 

Rechtsanwalt Dr. Michael Siegel (1882–1979), der Adressat, erlangte weltweite Bekanntheit durch Fotografien, die zeigen, wie er am 10. März 1933 in München von Angehörigen der SS von der Hauptpolizeiwache in der Ettstraße barfuß, mit zerschnittener Hose und mit einem großen Schild um den Hals („Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren“) durch die Innenstadt zum Hauptbahnhof getrieben wurde. Er hatte versucht, namens eines jüdischen Mandanten eine Anzeige zu erstatten, wurde aber verprügelt und dann öffentlich gedemütigt (Bildquelle: Wikimedia/Bundesarchiv).
Michael Siegel 1933 in München

Ab 18. Januar 1934 wurden im Deutschen Reich neue Behördendienstmarken ausgegeben, die sich an der Gestaltung der aktuellen Freimarken orientierten. Das Profil des greisen Reichspräsidenten Hindenburg wich einem großen Hakenkreuz im Eichenkranz, ergänzt um den Schriftzug „Dienstmarke“. Die „neue Zeit“ hielt sichtbar Einzug (bisher war das Hakenkreuz auf Briefmarken seit November 1933 nur als Wasserzeichen erschienen). Die Dienstmarken wurden einstweilen an den Sammlerschaltern in Berlin und München ausgegeben, die Behörden sollten weiterhin die vorhandenen Restbestände der Weimarer Vorgängerausgabe im Korbdeckelmuster aufbrauchen. Gut ein Jahr später wurde in Erding am 16. März 1935 noch eine Mischfrankatur verklebt, als ein Nachnahmebetrag von einem Rechtsanwalt in München eingehoben werden sollte. Die Frankatur setzt sich aus dem Brieftarif von 12 Pfennigen und der Vorzeigegebühr von 20 Pfennigen zusammen.

Man weiß nicht, ob man Michael Siegel für seinen offenbar unerschütterlichen Optimismus und Glauben an das Recht (vor allem angesichts seiner Erfahrungen gleich zu Beginn der NS-Herrschaft) bemitleiden oder für seinen Mut bewundern soll, seine Arbeit zu machen wie bisher. Am 27. September 1938 erging ein generelles Berufsverbot für alle jüdischen Rechtsanwälte. Vermutlich war Siegels Klientenkreis schon vor diesem Einschnitt stark geschrumpft. Dem Rechtsanwalt und seiner Frau gelang 1940 die Ausreise nach Peru, wo er 1979 hochbetagt starb. 1971 wurde er für seine Tätigkeit als Berater der deutschen Botschaft in Lima und als Vermittler zur dortigen deutsch-jüdischen Exilgemeinde mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Quelle

Dietmar Schmitz

Datum

03/1935

Typ

Dokument

Identifikator

776

Zitat

“Brief vom Amtsgericht Erding an Michael Siegel,” Onlinearchiv zur NS-Geschichte im Landkreis Erding, accessed 19. April 2024, https://erdinggeschichte.omeka.net/items/show/3558.

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